Ehemalige Ortslistennummer/Brandkatasternummer 109
Vom „Mondschein-Bauer“, vom Kienert Adolf & vom Infant
Das Uhlig-Gut
Beim heutigen (damaligen Fachwerk-)Haus in der Seydelstraße 3 handelt es sich um das Wohnhaus und letzte verbliebene Gebäude des ehemaligen Uhlig-Gutes, welches bis 1923 bewirtschaftet wurde. Letzter Besitzer war Hermann Uhlig („Schieferfried-Hermann“), bevor es dann in das Eigentum der Gemeinde Einsiedel überging.
Der obige Kartenausschnitt datiert ungefähr aus der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts (vor 1908). Den ursprünglichen Drei-Seitenhof sehen wir an der gekennzeichneten Stelle. Bewirtschaftet wurde (vermutlich nicht nur) das Flurstück 229, welches sich bis zum Bahnkörper erstreckte. Davor, der rote Bereich (Flur 419), ist die Fabrikstraße. Darunter der an dieser Stelle unterirdisch verlaufende Mühlgraben der Strumpffabrik „Wex & Söhne“, der dort dann auch in die Zwönitz mündet. Die Seydelstraße oder den August-Bebel-Platz gab es zum Zeitpunkt noch nicht.
Oben in der Karte und in Adressbüchern vor 1900 ist das Uhlig-Gut postalisch der Fabrikstraße zugeschlagen. Dann trug es die Hausnummer Seydelstraße 1 und später – bis heute – die Nr. 3.
Es ist davon auszugehen, dass die Gemeinde Einsiedel das Grundstück – nicht aber die Gebäude resp. das Gut – nach Betriebsaufgabe desselben bewusst kaufte. Die Größe des Flurstückes und die Eigentumsverhältnisse zum Zeitpunkt machten die geplanten und durchgeführten Errichtungen von Reichsstraße (Neue Straße), August-Bebel-Platz und die Erweiterung des Viertels „Rothenburg“ mit der Seydelstraße erheblich einfacher.
Die 25, 30 Jahre, die zwischen den beiden Kartenausschnitten liegen, zeigen uns die Errichtung so vieler Häuser mehr als deutlich. Bis 1939 werden noch viele Gebäude an der Reichsstraße, Seydelstraße und am August-Bebel-Platz errichtet … um dann im Februar und März 1945 den angloamerikanischen Bombardements zum Großteil zum Opfer zu fallen.
Der „Mondschein-Bauer“
Späterer Eigentümer des ehemaligen Uhlig-Gutes war Walther Fischer, hier rechts im Bild mit Ehefrau Margarete (Gretel).
Walther Fischer war Bauer, auch wenn in alten Unterlagen manchmal als Beruf Viehhändler angegeben ist. Es scheint zweifelhaft, ob er Viehhandel betrieben hat, und wenn, dann keinesfalls im großen Stil.
Dem Bombenangriff am 5. März 1945 fielen wahrscheinlich Scheune und Stallung zum Opfer, das Wohnhaus wurde verschont.
Walther Fischer bewirtschaftete gepachtete Felder am Mühlberg und ein Areal über dem Naturbad in der Siedlung. Letzteres gehörte ihm anteilig (Erbengemeinschaft).
Es war keinesfalls so, dass Walther Fischer den Tag verbummelte. Aber seine Arbeitseinteilung war im Sommer so, dass er oft erst mit beginnender Dämmerung das Pferd anspannte und (einspännig!) in die Siedlung fuhr, um ebenda Gras für sein Vieh zu hauen.
Er nutzte dann dort auch noch die Zeit, um in Ruhe über das Feld zu gehen. Es war seine Art, einen arbeitsreichen Tag ausklingen zu lassen.
Und natürlich war es dann dunkel, als er seine Grasfuhre einbrachte. Zu dieser Zeit saßen andere längst zu Hause oder in den Wirtschaften. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Walther Fischer den Namen „Mondschein-Bauer“ verpasst bekam.
Ein Blick in den Hof
Für die folgende Beschreibung mussten wir etwas „basteln“ – Fotos aus ganz unterschiedlichen Epochen geben uns aber trotzdem einen recht passablen, wenn auch unvollständigen Einblick in das Gut.
Werfen wir mal einen Blick auf die Hofseite des Hauptgebäudes. Achtung, bei diesem Foto handelt es sich nicht um das Wohnhaus des hier behandelten Grundstücks. Allerdings ist es von der Ansicht recht ähnlich und kann somit gut als Anschauungsbeispiel dienen – wir besitzen leider keine hofseitige Aufnahme des Fachwerkhauses im Erstzustand.
Das Wohnhaus Seydelstraße 3 war nicht ganz so lang, aber ansonsten folgt es einem Baustil von Bauernhäusern aus dem 19. Jahrhundert wie diesem hier. (Es ist durchaus möglich, dass das abgebildete Gebäude ebenfalls in Einsiedel stand, wir können es aber nicht einem bestimmten Grundstück zuordnen.)
Links neben der hofseitigen Eingangstür befand sich die Küche, oben waren dann die Wohnräume. Neben der Haustür finden wir die Wasserpumpe, die – ebenfalls typisch – oft an dieser Stelle angeordnet war. Schließlich rechts der Eingang zu den Stallungen. Man konnte auch innerhalb des Hauses zu diesen gelangen, sie nahmen etwa die Hälfte der Erdgeschossfläche ein.
(Foto: Jürgen Fritzsche)
Dieser kleine, fast quadratische Pferdestall mit Heuboden war sehr wahrscheinlich ein Nachkriegsneubau. Die Aufnahme stammt von Anfang Mai 2007, in wenigen Tagen wird das Gebäude abgerissen (nachfolgendes Bild), um Platz zu schaffen für einen Garagenneubau des Nachbargrundstückes.
(Fotos: Jens Lohse)
Rechts neben dem Pferdestall schloss sich eine große Baracke an. Diese gehörte der Gemeinde Einsiedel und war eine Art Bauhof. Die Zugänge davon erfolgten von der Fabrikstraße, also hier auf der Abbildung hinter dem Gebäude. Und wie deutlich erkennbar waren auch diesseits Tore.
Auf dem Foto sehen wir den Fuhrunternehmer Adolf Kienert, auch er nutzte die Baracke und wir kommen nachfolgend detailliert auf ihn zurück.
(Foto: Steffen Kienert)
Der große Holzbau wurde Ende der 1980er-Jahre, noch zu DDR-Zeiten, abgerissen. Die Gemeinde plante, die Freifläche für privaten Garagenbau zur Verfügung zu stellen. Dieses Vorhaben wurde durch die Wende überholt und heute befindet sich hier der im Sommer 1993 errichtete Neubau Fabrikstraße 19.
Zur Orientierung: rechts hinten der Giebel des Mehrfamilienhauses Fabrikstraße 17. Und dort dahinter befindet sich seit Jahrzehnten (auch 2024 noch) auf dem Grundstück Fabrikstraße 15 ebenfalls eine Garagengemeinschaft. Bis zum Bombenangriff 1945 stand hier ein Haus mit Hintergebäude, welches aber nicht wiedererrichtet wurde.
Fuhrunternehmer Adolf Kienert
In den 1950er-Jahren kaufte Adolf Kienert von Walther Fischer die Gebäude. Das Grundstück gehörte – wie berichtet – der Gemeinde Einsiedel und wurde von Kienert gepachtet.
Ebenso gepachtet waren die Felder, sie befanden sich in Höhe Pionierlager, am Mühlberg, im Bereich der Gärten der Gartenbaugenossenschaft und auch in der Flussaue der Zwönitz zwischen Einsiedel und Dittersdorf.
Vertrieben aus Oberschlesien
Nicht nur Adolf Kienert, auch seine Mutter und die drei Geschwister waren Vertriebene aus Oberschlesien. Ursprünglich stammten sie aus Bankau, Kreis Kreuzburg (Regierungsbezirk Oppeln).
Der Vater war 1939 als Zöllner in Polen resp. dem Generalgouvernement eingesetzt und fiel im Oktober 1944 bei Zakopane durch Partisanen.
Mit dem Vorrücken der Roten Armee wurde auch Bankau evakuiert und die Kienerts fanden im Sudetengau eine zeitweilige Unterkunft bis Kriegsende. Als sie danach in ihren unzerstörten Heimatort zurückkehrten, hatten (ebenfalls heimatvertriebene) Polen das leerstehende Haus bezogen, gestatteten aber den Kienerts, im Nebengebäude zu wohnen.
Im Dezember 1946 wurden sie schließlich von den polnischen Behörden aus ihrer Heimat vertrieben. Über Leobschütz (Schlesien) ging es schließlich mit dem Zug nach Chemnitz. An Erschöpfung verstarb in dieser Zeit der Großvater.
Mit wenigen Habseligkeiten in einem Handwagen erreichten sie das zugewiesene Ziel: Einsiedel. Hier, im völlig zerstörten Ort, bekamen sie im Januar 1947 ein einzelnes Zimmer in der Herrmannstraße 4 zugewiesen und nach vielen Monaten eine Wohnung.
Adolf und sein jüngerer Bruder Hans blieben als Erwachsene in Einsiedel, die beiden Schwestern siedelten in den 1950er-Jahren in die Bundesrepublik über.
Alltag
Wir haben nachfolgend eine kleine Fotogalerie eingefügt, die uns Einblicke in Kienerts Alltag gewährt.
(Alle Fotos außer „Dorfkirmes“: Steffen Kienert)
Wenn vielleicht auch der Transport der „Dorfkirmes“ kostenlos war aufgrund einer Dorffeierlichkeit: selbstredend musste Frachtführer Kienert von seinen Transporten leben.
Regelmäßiges Ladegut war Asche. Die älteren Leser, jedenfalls der „uralte Einsiedler Dorfadel“, kennen sicher noch die Asche-Häuschen aus armierten, mit langen Spindeln verschraubten Betonteilen. Diese befanden sich außerhalb des Hauses und hier wurde die unter Umständen auch noch glühende Asche durch einen zu öffnenden Stahldeckel oben hineingeschüttet.
Geschätzte Kapazität waren mindestens 2 m³, bis das Asche-Häuschen voll war. Und jetzt rief man Adolf Kienert. Diese rangierte einen seiner Pferdewagen (meist rückwärts) bis vor die Entladeluke und lud die Asche auf den Wagen. Die Beladung wurde zusätzlich berechnet.
Alternativ konnte auch der Besteller laden, er hatte dafür einige Tage Zeit. Kienert spannte in diesem Fall ab und führte die Pferde zu Fuß nach Hause oder zu einem anderen Wagen irgendwo im Ort, der abholbereit war.
Nebenstehend eine Rechnung für „Asche abfahren“. Horst Richter hatte selbst geladen und so wurde nur der Transport berechnet.
War Asche oder anderes zu entsorgendes Gut geladen, ging die Fuhre vorwiegend zum „Schutt“.
Der „Schutt“ war eine größere Deponie/Müllhalde an der „langen Geraden“ zwischen Erfenschlag und Einsiedel. Kurz vor der Wende wurde diese Halde geschlossen und seitdem befinden sich hier Kleingärten.
Aber wir haben noch ein Bild eines anderen Transportgutes: Pferdemist.
Der Pferdmist landete aber nicht auf dem „Schutt“, sondern wurde an die vielen (Klein-)Gärtner als Dünger und Bodenverbesserer verteilt. (Das ist bis heute so, „Hauptsaison“ Frühling und Herbst.)
Bekanntlich sah es im Arbeiter- und Bauernstaat mit Telefonanschlüssen recht dünn aus – die Firma Kienert hatte keinen. Wohl aber die Kfz-Lackiererei & -Klempnerei Gottfried Lohse gleich um die Ecke auf der Fabrikstraße.
Und so war Adolf Kienert hier beinahe täglich anzutreffen, wenn er ein Telefonat führen musste, sei es ein Transportauftrag oder ein Anruf beim Tierarzt. Und stets blieb das obligatorische 20-Pfennig-Stück auf dem Schreibtisch bei Lohses zurück.
Infant
1973 gastierte der DDR-Staatszirkus „Busch“ in Karl-Marx-Stadt und Adolf Kienert verbuchte in diesem Jahr seinen wohl betriebswirtschaftlich größten Erfolg.
Vorausgegangen war, dass die Einsiedler Freizeit-Redakteurin Helga Claus für die einzige in der DDR erscheinende Fachzeitschrift „Pferd und Sport – Mitteilungsblatt des Deutschen Pferdesport-Verbandes der DDR“ einen Artikel schreiben wollte.
Ihr Interviewpartner war der bekannte Pferde- und Elefantendresseur Siegfried Gronau. Seine „Freiheitsdressur mit zwölf braunen Lipizzanern“ war legendär. (Über 90 % dieser alten k.u.k.-Pferderasse sind Schimmel.)
Aus dem Interview und dem Artikel über Gronaus „Freiheitsdressur“ entwickelten sich im Nachhinein noch einige familiäre Besuche.
Dabei erwähnte Gronau, dass der Zirkus „Busch“ derzeit einen jungen Schimmelhengst für eine neue Dressur suchte.
Und Adolf Kienert hatte einen: Infant.
Schnell war man sich handelseinig und der Zirkus zahlte einen Kaufpreis von 3.000,00 Mark. 1973 eine stolze Summe!
Rechts sehen wir Infant im Sommer 1973 nach der Übergabe an den Zirkus. Geändert wurde der Name des Hengstes, aus Infant wurde Polo.
Die Dressuren waren recht erfolgreich, selbst in der Sowjetunion war das Pferd in der Manege (nachfolgendes Foto).
Und Adolf Kienert furchtbar stolz, als er seinen Hengst später in Karl-Marx-Stadt bei den Zirkusvorführungen sah.
Adolf Kienert, geboren am 28. September 1929 in Hindenburg O.S. (= Oberschlesien), verstarb bereits mit reichlich 54 Jahren am 14. April 1984 in Karl-Marx-Stadt im Krankenhaus.
Oben auf dem Kutschbock in der Mitte Adolf Kienerts Ehefrau Hannelore. Sie arbeitete in dem kleinen Unternehmen mit und ganz sicher war das nicht immer solch ein leichtes Leben, wie uns der Schnappschuss oben vermittelt – eine Momentaufnahme eben.
Nach dem Tod von Adolf Kienert wurde ihr durch die Gemeinde Einsiedel eine Anstellung in der Schulküche Einsiedel angeboten, wo sie dann bis zum Rentenbeginn arbeitete.
Verkauf und Totalsanierung des verbliebenen Wohnhauses
Nach Hannelore Kienerts Tod 2002 und dem Ableben des älteren Sohnes 2006 wurde das Haus vom zweiten Sohn im selben Jahr verkauft.
Und fortan sanieren und rekonstruieren die neuen Eigentümer Maren und Danny Prasser das Gebäude auf liebevolle Weise.
Klingeln wir einfach mal …
Nachfolgend einige Bilder, die das Nostalgische, die Authentizität, die Ursprünglichkeit gut zur Geltung bringen.
(Galeriefotos und Texte dazu: Maren und Danny Prasser)
Für die Unterstützung zu dieser Seite bedanken wir uns bei:
- Familie Steffen Kienert
- Jens Lohse
- Helga Claus
- Maren und Danny Prasser
Passende, ergänzende Artikel zu dieser Seite:
- Erich Parthey: „Erzgebirgische Dorfkirmes„
- Am Plan 2: Die „Brot-, Weiß- und Feinbäckerei Enzmann„
- Einsiedler Hauptstraße 44: Uhrmachermeister Richard Uhlig, später „Roter Konsum“
Interessant find ich auch das auf der Südostseite am Giebel sichtbare Mauerstück. Dies zeigt wie vor langer Zeit mit großen und kleinen Bruchsteinen gebaut wurde.