Ehemalige Ortslistennummer/Brandkatasternummer 51
(für die Hausnr. 91)
Turngeräteherstellung, Korbmacherei, Textilwaren, Uhren & Schmuck, Schlosserei, Zahnarzt, HO, kleiner Supermarkt, Obst & Gemüse … ach, und seit 2013 auch wieder Blumen
… das mal vorab im Schnelldurchlauf, welche Vielfalt an Gewerben in den beiden Häusern in der Hauptstraße 91 und 91a im Laufe so vieler Jahrzehnte angesiedelt waren.
Und das waren auch noch nicht alle, aber der Reihe nach:
Das Gebäude Hauptstraße 91 wohl zwischen 1900 und 1910. Das verschieferte Wohnhaus erkennen wir noch heute, wenn auch in leicht veränderter Form. Völlig anders die linke Gebäudehälfte. Zum Aufnahmezeitpunkt war dort die Produktionsstätte der Turngerätefabrik von Carl Felber. Dieser Gebäudeteil wurde 1938 abgetragen und bis 1939 als Wohnhaus wieder errichtet, so wie wir es heute noch kennen. Als Hausnummer erhielt das Gebäude die 91a, auch sie gilt bis heute.
Für die Geschichte der Turngerätefabrik Carl Felber greifen wir auf einen Artikel des Einsiedler Heimatforschers Ingobert Rost zurück, den wir mit dessen freundlicher Genehmigung nun nachfolgend publizieren.
Turngerätefabrik Carl Felber in Einsiedel
Wer weiß denn noch etwas davon? Versuchen wir eine Rückerinnerung.
Die Wiege dieser kleinen Fabrik stand hier an der heutigen Einsiedler Hauptstraße 91, alte Nummerierung Nr. 51.
Hauseigentümer war damals der Stellmachermeister Carl Friedrich Felber (1849-1914), Sohn eines Seilermeisters, im Adressbuch von 1897 ist er eingetragen als Turngerätefabrikant. Felber verstarb im Juni 1914 im Alter von nur 64 Jahren, lebte zuletzt als Privatier, war Ortsrichter und Kirchenvorsteher. Er war seit 1875 verheiratet mit Amalie Emilie, geb. Einhorn (1854-1945). Siehe Foto rechts.
Gegenüber in der Seilerstraße, wohnte sein Bruder, der letzte Einsiedler Seilermeister Eduard Clemens Felber (1848-1898), ebenfalls als Turngerätefabrikant eingetragen. Eduard Felber war Miteigentümer. Dieses Haus gehörte später seinem Stiefsohn Richard Schmidt, einem bekannten Einsiedler Original.
Der Anbau des Hauses (heute 91A) war die ursprüngliche Produktionsstätte, später abgerissen und als Wohnhaus umgebaut. Carl Felber schreibt in seiner Werbebroschüre vom Vorhandensein einer eigenen Dampfmaschine, von Hilfsmaschinen und gut eingerichteten Arbeitern. Dadurch sei er imstande, jeden Auftrag in kürzester Zeit zu erfüllen. Für seine Produkte gab es eine zweijährige Garantie. Barzahler erhielten zwei Prozent Rabatt.
Besonders verwies er auf seine Weiterentwicklung am Sportgerät Pferd. Dort wurden zusätzlich so genannte Bügelpauschen aus gebogenem Holz angebracht, die er als Patent gesetzlich schützen ließ (D.R.G.M. Schutznr. 26778). Diese Abkürzung bedeutete Deutsches Reichsgebrauchsmuster. s.u.
Erstmalig vorgestellt kam dieses Pferd auf dem 8. Allgemeinen Deutschen Turnfest in Breslau 1895 in die Öffentlichkeit. Das Pferd als Turngerät wurde seit Turnvater Jahn (1806) bislang ohne solche Pauschen benutzt.
In Breslau wurde übrigens auch die bisherige Männerdomäne Geräteturnen gebrochen, da von nun an auch Frauen aktiv an Wettkämpfen teilnahmen. Der bürgerliche Einsiedler Turnverein bestand seit 1870 und nahm mit einer kleinen Abordnung daran teil.
Die Felbers rüsteten auch die 1912 erbaute Einsiedler Schulturnhalle mit ihren Sportgeräten aus. Leider zerstörte 1945 der Bombenangriff alles Inventar.
Ihre Geschäftsbeziehungen reichten damals über das gesamte Reichsgebiet hinaus, wie Kundenbriefe aus allen deutschen Ländern das bestätigten. Dankschreiben kamen auch aus dem polnischen Oberschlesien, dem Elsaß oder dem böhmischen Riesengebirge.
Felbers profitierten von der 1875 neu erbauten Bahnlinie Chemnitz-Aue/Adorf mit der Bahnhofstation Einsiedel. Die meisten Erzeugnisse konnten nun per Bahn versandt werden, wie die Berichte belegen. Auch benötigtes Material kam auf diesem Weg hierher.
Mit etwas Fantasie könnte man sogar glauben, ihre Turngeräte hätten den Weg bis in die ehemalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, gefunden. Dort existiert nämlich noch heute der Ort Kolmannskuppe einer Geisterstadt am Rande der namibischen Wüste. In der Kolonialzeit wurden hier 20% der Weltdiamantenförderung getätigt. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, wann die allesverschlingenden Wanderdünen die letzten Gebäude dieser ehemaligen Stadt aus deutscher Kaiserzeit zerstört haben werden. Hier steht derzeit u.a. noch eine Turnhalle mit originaler Bestückung, so wie sie auch einst von den Felbers hergestellt wurden. 1938 musste die Stadt bereits aufgegeben werden. Einige Gebäude restaurierte man in jüngster Zeit als Touristenattraktion. Soweit ein nicht zu Felbers gehöriger Abstecher.
Die Produktenpalette in Einsiedel umfasste Pferde, Böcke, Springtische, Springkästen, Pyramidenleitern, Eisenkugeln, Würfel, Stäbe, Hanteln, kippbare Zielpfähle in Mannformen sowie dazugehörige Gere (Wurfspeere) und natürlich Seilereierzeugnisse. In welchem Jahr C. Felber seinen Betrieb aufgab, ist derzeit nicht bekannt. Offensichtlich spielten mehre Faktoren eine Rolle. Einerseits hatte er ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet. Er verlieh als Privatier Kapitalien an verschiedene Personen im Ort und auch außerhalb. Von den Zinserträgen konnten Felber und seine Ehefrau Emilie recht gut leben. Der einzige Sohn Karl stirbt schon als Kleinkind. Die Ehe war danach kinderlos geblieben, also erfolgte keine Weitergabe des Betriebes. Durch Krieg und Inflation waren die Ersparnisse später zerflossen. Zweitens könnten auch gesundheitliche Probleme mitgespielt haben. Er war ein starker Zigarrenraucher und klagte oft über Atemnot. Im Krankenhaus Chemnitz verstarb er am 8. Juni 1914 an den Folgen von Lungen- und Luftröhrenkrebs. Durch verwandtschaftliche Verbindungen, Heirat einer Nichte der Felbers, kam das Gebäude in den Besitz des Schlossermeisters Paul Oettel(1893-1962), der hier nun eine Schlosserei betrieb. Dieser vermietete Räume des Hauses u.a. an die Kurzwarenhandlung Rother und an den Korbwarenhändler Conrad Uhlig. Der Ingenieurökonom Kurt Oettel (1921-1970), Sohn des Paul Oettels, befasste sich intensiv mit Orts- und Familiengeschichte. Seine Aufzeichnungen pflegen und bewahren die Töchter Christine Kotulla und Margit Kappes, denen ich für ihre Hilfe recht herzlich danken möchte. Über die weitere Hausgeschichte soll hier nicht geschrieben werden.
© I. Rost März 2013
Wir wollen an dieser Stelle den letzten Satz von Ingobert Rost aufgreifen und nun unsererseits die Hausgeschichte weiterschreiben.
Rechts eine Werbeannonce der Kurzwarenhandlung von Helene Roder aus dem Jahre 1926. Sie zog später in das Gebäude Hauptstraße 97.
Im Erdgeschoss der Nr. 91 waren lange Zeit diverse Uhrmacher eingemietet. Erinnert sei an Cyrus Därr. Links eine Werbeannonce aus dem “Einsiedler Wochenblatt” von 1935. Därr hat sich seinerzeit auch noch auf andere Art werbewirksam und vor allem nachhaltig präsentiert.
Unten zwei entsprechende Fotos eines Weckers aus alter Zeit, man achte auf das Zifferblatt.
(Fotos: Ullrich Krauß)
Derartige Wecker mit Namenszug von Cyrus Därr waren nicht das Einzige, in einem Auktionshaus haben wir auch schon Taschenuhren mit entsprechender Einprägung gesehen.
Nach Därr war hier dann der Uhrmacher Walter Graubner (Spitzname “Wecker”). Die Fußballfreunde im Ort kannten ihn, er spielte bei der SG Einsiedel. Er kam auf tragische Weise bei einem Motorradunfall an der „Einnahme“ (Kreisverkehr in Reichenhain) ums Leben. Ein großes Schlagloch war die Ursache. Nach dem „Wecker“ fanden wir hier dann Karl Grüner (später in der Hauptstraße 89).
Unten eine Reklameanzeige von Letzterem aus der Festschrift “700 Jahre Einsiedel” von 1955.
Zurück zum Gebäude. Unten eine Aufnahme aus dem Jahre 1934. Das später unter der Hausnummer 91a geführte Wohnhaus steht hier noch in seiner ursprünglichen Form. Gut zu erkennen die Werbeschilder der Schlosserei Paul Oettel und von Uhrmacher Cyrus Därr.
In der 91a betrieb der Zahnarzt Herbert Roscher von 1933 bis 1947 seine Praxis. Wir verweisen auch auf den Kommentar am Ende dieser Seite.
Die Aufnahme zeigt Herbert Roscher „bei der Arbeit am Patienten“ und scheint wohl in den 1950er Jahren entstanden zu sein. Aber recht ähnlich dürfte seine Praxis hier im Gebäude seinerzeit ausgesehen haben.
(Foto: Dieter Roscher)
Oben die Hauptstraße 91/91a in den 1960er Jahren. Bereits vor 1945 wurde das Gebäude 91a (die ehemaligen Produktionsräume der Turngerätefabrik) wesentlich verändert. In den Erdgeschossräumen des Hauses befand sich zu DDR-Zeiten eine Filiale der HO für “Obst-Gemüse-Fisch”. Die etwas älteren Semester können sich sicher noch gut an die “umfassende sozialistische Warenbreite” erinnern. Umgangssprachlich “Grünwaren-HO” genannt, ist sie nicht zu verwechseln mit “Grünwaren-Hofmann”, dieser befand sich vormals in der Hauptstraße 83. Etwa bis 1955/56 praktizierte noch der Zahnarzt Franz Körtel im Erdgeschoss, bevor er praktisch über Nacht mit seiner Familie in den Westen ging.
Im Hintergebäude -über die Seilerstraße zu erreichen- befand sich die Schlosserei und Schweißerei von Paul Oettel. Oettel wurde wie oben erwähnt durch Eheschließung Besitzer des Grundstücks. Nebenher betrieben Oettels noch eine Wäschemangel im Hause.
Ein recht seltenes Foto gelang uns am 26. Januar 2006. In Zeiten, wo sich die Tätigkeit des “Essenkehrers” fast nur noch auf die Abgasprüfungen von Thermen oder das kostenpflichtige Genehmigen diverser Brenner und Öfen beschränkt, ist das Kehren eines Schornsteins für diesen vermutlich eine Abwechslung.
Im Zuge der stetigen Verteuerung von Gas und Oel werden wir den schwarzen Gesellen in Zukunft vielleicht wieder öfter beim “Essenkehren” sehen.
Nach der Wende wurde die vormalige “Gemüse-HO” in der 91a zum „Promarkt Einsiedel“ und durch die Gebäudeeigentümer als Einzelhandelsgeschäft mit Waren des täglichen Bedarfs weitergeführt. Es schloss Ende 1995, auch in Folge des Neubaus „Plus-Markt“ am Wiesenufer. Später war dann ein Blumengeschäft eingemietet. Danach befand sich lange Zeit im Erdgeschoss der “Früchte-Shop Pham”, alle nannten ihn nur (englisch) “John”, obwohl er sich Jon schreibt. Jon hatte auch die Erdgeschossräume von Nr. 91 angemietet und benutzte diese als Lager.
Nach der Wende war im dortigen Gebäudeteil ein Steuerberater, später eine Änderungsschneiderei.
2013 wechselte der Mieter in der 91a. Jon ging nach Hamburg zu seinem Bruder, ein neuer Vietnamese und dessen Frau übernahmen den Obst- und Gemüsehandel und ergänzten das Sortiment mit Blumen.
Das äußerliche Aussehen von Nr. 91 hat sich im Laufe der vielen Jahrzehnte wenig geändert. Noch heute zeigt uns die Schieferverkleidung an der Frontseite, wo einstmals der Haupteingang des Gebäudes war.
Eine gewisse Modifizierung und vor allem eine umfassende Sanierung erfuhr die Nr. 91 mit dem Verkauf von den Erben Magda Egers. Der neue Besitzer hat das Fachwerkhaus innerlich wie äußerlich saniert. Und wir wiederum haben dazu eine kleine Fotogalerie vorbereitet:
Ja, liebe Freunde der Einsiedler Heimatgeschichte, so wollen wir diese Seite nun (vorerst) schließen mit einem klassischen Schnappschuss, der uns am 19. September 2015 (Kirmesabend) zwischen Tür und Angel gelang und uns die Hauptstraße 91 und 91a unter dem Regenbogen zeigt.
Selten ist dieser Anblick vom 31. März 2016. Nicht die vietnamesische Verkäuferin an sich. Sie und ihren Mann sieht man hier täglich, beide sind die Inhaber des Obst-, Gemüse- und Blumengeschäftes.
Beide stets freundlich und hart arbeitend. Sie sind wohl das, was man als „voll integriert“ bezeichnet.
Nein, was auffällig ist, ist der traditionelle Hut. Den trägt sie nämlich nur bei regnerischen Wetter und es bedurfte etwas Geduld, bis uns dieses Foto gelang…
Vielen Dank für die schönen Beiträge zur Hauptstr. 91 und 91 a . Ich bin in diesem Haus geboren. Margit Kappes geb. Oettel
Wir danken für den Zuspruch und freuen uns sehr, wenn unsere Seiten gelesen werden.
In den Jahren 1933-1947 gehört die oben genannte Praxis des Franz Körtel dem ZA Herbert Roscher,dessen Familie auch bis zum Apothekenneubau 1951 über den Praxisräumen wohnte. Auf Grund einer Verleumdung durch eine damalige Einsiedlerin wurde ihm die Praxis geschlossen und erst nach Aufklärung durfte er wieder arbeiten, allerdings in Kemtau! D.R.